Ein
Märchen aus längst verschollenen Zeiten
Pfeifend lief der Sturm durch den Tannenwald. Mit seinen kalten Fingern
riss und zerrte er im Vorbeirennen an den Ästen und Zweigen, dass die kleinen
Bäume sich verängstigt neigten und die großen, die schon so viele
Lebenserfahrung hatten, um zu wissen, dass etwas schimpfen alles Unangenehme
erleichtert, – quarrten und knarrten, dass es nur so eine Art hatte. Ab und zu
hielten sie erstaunt inne – das war, wenn wieder ein neuer Gast bei der
Felsgrotte ankam, in der heut die Moosweiblein und Steinzwerge ein großes Fest
feierten.
Verstohlen und fast verlöscht vor Neugier, guckte dort ein flackerndes
Irrlicht aus dem Busch hervor, das nicht eingeladen war, weil es schon zu oft
zur Nachtzeit den einen oder anderen Steinzwerg, der zuviel Birkensaft
getrunken, auf Abwege gelockt hatte. Kaum sah des Sturmes Jüngster, der
Morgenwind, die arme Flimmerflamme, als er gleich mit vollen Backen auf sie
losblies und sie bis ins dunkle, schwippende Moor trieb. Dort aber tauchte sie
unter und versteckte sich unter den weißen Totentüchern, die das Moorgespenst
just ausbreitete. Vor dem aber fürchtete sich selbst der kecke Morgenwind,
schüttelte sich und rannte davon.
„Kinder, sagt mir doch
bloß, was heut eigentlich los ist“, wisperte eine Zwergtanne zu den sie
umstehenden mächtigen großen Bäumen herauf. Denn sie liebte es, im
Großmutterton mit den Großen zu sprechen.
„Ja, das weiß der Deibel“,
knurrte ein verhutzeltes Wurzelmännchen und biß dazu an seinen Fingernägeln
herum. Da bekam es plötzlich von rückwärts her einen herben Klaps auf die Hand,
und als er fauchend herumfuhr, stand der Waldgeist hinter ihm, der stets auf
Form und Sitte hielt. Mit seiner tiefen Stimme, die wie Waldesrauschen klang,
sagte er:
„Erstens nagt man nicht an seinen Fingern wie ein hungriges Mäuslein am
dürren Holz, und zweitens lässt ein derartiger Waldmann den Deibel ungerufen!“
„Wenn du da bist,
Allweiser, brauchen wir ihn ja auch nicht“, krächzte das freche Männlein, fuhr
aber vorsichtshalber doch in seine tiefste Höhle, kopfüber, und schob noch
ängstlich eine dichtverwachsene Wurzeltür hinter sich zu.
Der Waldgeist aber hatte gar nicht mehr auf ihn gehört, denn er sah
zwischen den Bäumen mit ängstlichen, großaufgerissenen Äuglein ein Kind daher
kommen, einen Korb voll Hühnereiern am Arm, den es krampfhaft festhielt. Dass
es von der Menschen Art sei, hatte der Waldgeist gleich gemerkt, denn es
stolpert über die Wurzeln, was kein Waldmännlein tut, und die verschüchterte
Art, mit der es auf das Gewisper und Geraune im Walde lauschte, das Entsetzen,
mit dem es zurückfuhr, wenn mal ein Zweig ihm schmeichelnd die Wange berührte –
zeigte dem Alten, dass es ein junges, verirrtes Menschenkind war. Als es vor
die Felsgrotte gekommen und die lachenden, gieckenden Alraunen beim Lichte
faulender Weidenstümpfe hüpfen und springen sah, da ward ihm himmelangst, und
es faltete die kleinen Fingerlein so fest, dass sie rot anliefen, und betete
ganz laut:
„Lieber Gott! Ach schicke
mir doch mein Mütterlein her!“
Das rührte den Waldgeist, er zeigte sich dem Kind, bückte sich zu ihm
nieder und sagte:
„Ich will dich zu deinem
Mütterlein führen!“
Da vertraute ihm das kleine Ding, und da es ein kleines Mägdlein war und
wißbegierig, wie diese Art nun einmal ist, so fragte es rasch getröstet:
„Was die da machen unter dem
nassen Gestein?“
Ehe noch der Waldgeist antworten konnte, kletterte ein kurzgeschürztes
Moosweiblein über einen tiefgewachsenen, glibbrigen Ast, der im Schlaf ein
wenig quarrte und knarrte, denn er war schon alt und hatte sich in der letzten
Gewitternacht erkältet, – und dann ganz atemlos vor dem Waldgeist an. Sie
hatte einen harten Kochlöffel in der Hand und klappste damit einen täppischen
Nacht-schmetterling auf die Nase, der sie durchaus küssen wollte, denn sie
roch, als käme sie geradewegs aus der allerschönsten Märchenküche – und gute
Küchendüfte besitzen allemal die größte Anziehungs-kraft für alles Männliche.
„Waldgeist!“ keifte das Moosweiblein, „in eurem Namen hat der Kiebitz
draussen an der Moorwiese geschworen, dass er mir heut reichlich Eier beschaffen
würde, damit ich meinen Gästen Atzung gewähren kann. Als ich die Eier aber in
der Dämmerung noch nicht hatte, fing ich mir einen Sommerfaden ein, fuhr auf
ihm der Moorwiese zu, wo ich nur die Kiebitzin fand. Als ich der meine
Forderung erklärte, da schrie sie laut vor Lachen, dass es mir noch in den
Ohren gellt, und behauptete, sie liefere nur im Frühjahr, wenn ihr Mann mir
auch jetzt Eier versprochen hätte, so solle ich sie mir nur von ihm legen
lassen, aber sie übernehme keine Verantwortung für das, was bei seinen
Versprechungen herauskäme! Vor der Nase ist sie mir fortgeschwirrt, jetzt sitz
ich ohne Eier, und eure Pflicht ist es, mir rasch zu helfen, Waldgeist, denn
bei eurem Namen schwor ja der freche Kiebitz!“
„Seltsam, Seltsam,“ murmelte der Alte und strich sich seinen langen,
weißgrünen Moosbart, „wie ihr Weiblein euch doch immer auszureden und zu helfen
wisst!“
Dann machte er sich rasch ganz klein, denn das konnte er, so klein, dass
sich das Menschlein gar nicht vor ihm zu fürchten brauchte, nahm ihm sacht den
Finger aus dem Mund, an dem es vor lauter erstaunen lutschte, und sagte:
„Schenkst du mir, was du da im Korbe hast? Ich geb dir auch lauter große
Tannenzapfen dafür und führ dich dann schnell zum Mütterlein!“
Bereitwillig und vertrauensvoll nickte das Kind dazu und stellte seinen
Korb aufs knisternde Moos. Neugierig huschte die Moosfrau hinzu und kreischte:
„Eier! Und was für welche! Zweimal so groß wie ich sie je bekommen! Da
sieht man, ich bin zu gut, ich verlange zu wenig! Warte“, sagte sie und sprang
einem dicken Stein auf den Rücken,
damit sie in einer Höhe mit dem Kinde war, „ich hole jetzt meinen Kessel
heraus, darin will ich die Eier sieden und du hilfst mir dazu Feuer machen!“
Damit wollte das Moosweiblein forthuschen, doch der Waldgeist hielt sie
noch rasch am flatternden Schürzenbande fest und sagte:
„Richtiges Flackerfeuer wird mir nicht gemacht! Das wäre sowas für den
Junker Morgenwind, der um die Zeit herumfährt und vor lauter Langeweile
gefährliche Dinge anstellt. Bring du nur deinen Kessel, ich aber pfeife dem
Feuermännlein, da bleibt es gleich unter meiner Aufsicht, sonst klettert es mir
heut wieder auf ein Binsendach, draussen bei dem Waldbauern.“
„Ist mir recht“, brummte das Moosweiblein, zerrte sein Schürzenband frei und
meinte schnippisch: „um mir das zu verkünden, hättet ihr mir die Schürze nicht
aufzubinden brauchen, Wohlweiser!“
Der Waldgeist tat, als verstünde er nicht. Das war auch das Beste so,
denn eher kann man Ameisen in ein großlöchriges Sieb sammeln, als mit
Weibsleuten fertig werden. Als die Moosfrau ihren großen Kessel herauszerrte,
der sich sichtlich dagegen sträubte, weil er gerade dabei war, einen
tiefsinnigen Aufsatz über den Wert oder Unwert der völligen Inhaltslosigkeit
auszuhecken, kam der Feuergeist im knallroten Röcklein um die entsetzt
zusammenfahrende Zwergtanne herumgesaust, dass es nur so dampfte. Er hatte ein
sichtlich schlechtes Gewissen. Denn wenn ihn der Waldgeist rief, setzte es
allemal etwas für irgend eine seiner jüngsten Schandtaten. Und als er jetzt vor
dem Gewichtigen stand und verlegen mit den Fingergelenken knackte, dass die
Funken sprühten, überlegte er still für sich, wer wohl über ihn gepetzt haben
möchte, und dachte sich aus, wie er sich dann an diesem Jemand köstlich und heimlich
rächen wollte. Dabei rieselte es ihm ordentlich wohlig warm den Rücken
herunter, denn so ein echtes Rachegefühl macht heiß. Drum war das Feuermännlein
fast enttäuscht, dass es sich nur unter den Kessel hocken sollte, und um sich
wenigstens etwas zu unterhalten, fing es an, von seinem geschützten Standpunkt
aus dem Mägdlein, das ihn gar so verdutzt anglotzte, solch grauliche Fratzen zu
schneiden, dass dies zu brüllen begann, grell, ohrenzerreißend, dass der Kobold
nun seinerseits ganz verängstigt unter dem Kessel saß. Worauf das Geschrei bald
in ein Glucksen und Schluchzen überging und allmählich ganz verstummte. Vorher
hatte der Waldgeist noch zwei langen Gabelhölzern befohlen, den Kessel mit
gebührendem Respekt zu halten, – denn die Dinger lagen doch nur so im Walde
herum und die Langeweile hatte sie schon ganz ausgedörrt. Knarrend und ächzend
hielten sie den Kessel und das Feuermännlein machte sich einen Hauptspaß
daraus, mal dem einen, mal dem anderen der dürren alten Junggesellen so nahe zu
rutschen, dass ihre langschößigen Röcke zu sengen anfingen. Dann schimpften sie
mit ihren knistrigen Stimmen, aber es half ihnen nicht viel. Da ward ihnen eine
unerwartete Hilfe. Der Kessel, ein dickbauchiger alter Herr, der sich für einen
großen Gelehrten hielt, weil er tagtäglich geleert wurde, brummte dem fahrigen
Männlein zu, doch endlich seinen Schwerpunkt auf die Erde zu verlegen.
„Na schön, du
erwartungsvolle Weisheitstonne, das sollst du büßen“, zischte das Feuer-männlein,
sein Kopf lief ordentlich dunkelrot an vor Wut und es musste den Mund
aufsperren, damit es etwas abdampfte. Dann plusterte es sich auf wie eine
Henne, die brüten will, und heizte dem armen Kessel derart ein, dass er zu
hupfen anfing vor Angst. Unterdessen hatte das Moosweiblein den Eierkorb
herangezerrt, und als es ihm trotz allen Pustens und in die kleinen Finger
spucken nicht auf den Kesselrand stellen konnte, lachte das Menschenkind hell
auf und hob den Korb mit schnellem Ruck über den Kessel, der mit
weitaugerissenem Munde zusah. Waldgeister können aber das Auslachen noch viel
weniger vertragen als manche Menschen, und so sprang denn auch das Moosweiblein
dem lachenden Kind auf den Nacken und fuhr ihm in den blonden Haarschopf, dass
es vor Schreck alle Eier auf einmal in den harten Kessel schüttete. Die
zersprungenen Schalen aber machten rasch, dass sie wieder aus der tollen Hitze
herauskommen, tapsten über den Kesselrand und torkelten ganz benommen ins kühle
Moos. Die Eier aber waren gleich an dem brummenden Kessel festgeklebt. Erst zwickte
das erboste Moosweiblein das Kind noch derb in die Wange, dass dem war, als
stäche es eine Mücke, dann gab sie ihm einen scharfen Blechlöffel und schrie:
„Rühre die Eier! Immer
rühre! Vielleicht wird noch ein Eierkuchen draus!“
Und schnell warf das Weiblein Steinsalz und Eichelfutter hinein und goß
frische Hirschkuhmilch dazu. Das Kind aber rührte vor lauter Angst, dass es wie
toll schäumte und kratzte dann die Eier mit dem scharfen Löffel so eilig, dass
der Kessel ordentlich aufkreischte und ganz lange, feste Brocken aus den
zerlaufenen Dingern wurden, und ehe das Moosweiblein noch recht zur Besinnung
kam, war zwar kein Eierkuchen, aber eine ganz neue, sehr wohlschmeckende Speise
gar geworden. Das Feuer-männlein kroch auch neugierig unter dem Kessel vor, und
da es gar so appetitlich roch, trippelten eilfertig die Höhlengeister herbei,
erhitzt vom Schwatzen und hungrig vom Tanzen, und jeder holte sein Tellerlein
und sein Löffelchen aus dem Ranzen, denn es waren gar selbstherrliche Leutchen,
und die Moosfrau und das Kind hatten alle Hände voll zu schaffen, bis jeder
Hungrige sehr reichlich und voll gemessen Näpflein aufgeladen hatte, und eine
zeitlang hörte man nur ein eifriges Schmatzen und Schlecken (das galt für artig
bei den Alraunen, aber es klang ganz abscheulich) – bald aber quiekte das eine
oder andere der Wißbegierigen oder sich so anstellende Weiblein:
„Was für ein fein neu Essen
das sei, und wie es sich denn nenne?“
Die Moosfrau ward verlegen, denn sie wusste es ja selbst auch nicht und
zuckte deshalb geheimnisvoll mit den Achseln, so dass alle glaubten, sie wolle
ihre „Kunst“ nur nicht weiter verraten – wie das ja so oft Sitte sein soll,
auch unter den Weiblein von Menschenart. Als aber das fragende Gezischel und
das Loben gar nicht aufhören wollte, fuhr das Feuermännlein dazwischen und
schrie:
„Rühreier heiß ich den Brei. Bedankt euch bei dem Menschlein dafür, das
hat ihn gekocht, nicht die heilige Alte!“
Damit zerrte er das Moosweiblein blitzschnell an ihren wohlgepflegten
Haaren, das sie versengten und ein abscheulicher Geruch umging. Von all dem
Gezeter und Geschrei wurde dem Kind nun ernstlich Himmelangst, es verlangte
nach seinem Mütterlein und den versprochenen Tannenzapfen so laut, dass der
Waldgeist ganz erschrocken herangetrippelt kam, den Korb im Umsehen füllte und
samt dem schluchzenden Kind unter seinen weiten Nebelmantel nahm. Müde schloß
das Kind die Augen und als es sie wieder aufmachte, lag es schon in seinem
Bettlein, und dann trat sein Mütterlein in die Tür und hielt sich am Pfosten
fest, weil es sonst noch gefallen wäre vor freudigem Schreck, dass es sein Kind
wiederfand, denn es hatte schon seit Stunden nach ihm ausgeschaut. Deswegen
schalt die Mutter auch nicht sehr, dass all die schönen Eier fort waren, und
als das Kind ihr all die wunderlichen Dinge, die es erlebt, erzählte, lächelte
sie ganz eigen und strich ihm nur leise über die Stirn, als wollte sie dort
etwas fortwischen. Die Tannenzapfen im Korb aber hatten sich, wie es ja auch
gar nicht anders zu erwarten war, in goldene verwandelt, noch ehe die Mutter
sie eilig verheizen konnte. Die Eierspeise aber, von der ihr Töchterchen
erzählt hatte, versuchte sie doch und da sie ihr auch gut schmeckte, kamen die
Rühreier unter die Leut – in längst verschollenen Zeiten.
13. Dezember 1919, Neue Hamburger Zeitung