Hamburg, 29. Oktober 1911
Es ist nicht immer gesagt, dass alles Neue auch bedingungslos gut
sein muß. Im Gegensatz zum erprobten Alten verfügt es meist über alle
Schattenseiten der unerfahrenen Jugend. Wenn diese aber nicht ganz und gar in
der Anlage verpfuscht ist, kann man im Lauf der Zeiten auf Besserung hoffen.
Vorläufig scheint mir freilich, dass wir mit dem Aufgeben des
Hopfenmarktes noch mehr verloren haben, als nur das schöne, wechselreiche Bild,
geweiht durch die Jahrhunderte. Die tätig am Marktleben Beteiligten fanden
statt der erhofften Bewegungsfreiheit beengende Einschränkung an den neu
geschaffenen Stätten ihrer Tätigkeit. So muss es wenigstens dem unbefangenen
Beobachter erscheinen, der zur Zeit des großen Marktes, am Freitag, den
Bahnhofsplatz aufsucht.
Auf den Zufahrtsstraßen ein atemnehmendes Gedränge von Marktwagen.
Kaum Luft scheint zwischen die einzelnen Gefährte kommen zu können, das Bild
hat beängstigende Ähnlichkeit mit dem unvollkommenen Gewühl am Burstah, als der
alte Hopfenmarkt noch der Kriegsschauplatz war. Mit dem Glockenschlag des Marktbeginns
kommt übersichtliche Ordnung in die Wagenburg.
Kopf an Kopf, ausgerichtet wie bei einem gut klappenden
Kavalleriemanöver, stehen die Gäule. Die meisten dösen, ergeben in ihr
Schicksal, still vor sich hin, nur ab und an gibt ein aufmerksames Ohrenspiel
Kenntnis davon, dass Leben, Daseinsverständnis in einem oder dem andern der
Vierbeiner steckt. Fein säuberlich von dem edlen Vetter getrennt, hocken die
Hunde unter ihren Karren. Frierend verfolgen sie mit flackernden Augen jeden
Schritt ihres Herrn im Weiberrock oder in Männerhosen.
Man muss eine Weile in der Nähe des spurlos dahingegangenen
Klosterbahnhofs stehen bleiben, um den rechten Überblick über das Geschiebe und
Getriebe des neuen Hauptmarktes zu bekommen. Den Freund althamburgischen Wesens
überkommt dann zuerst ein wehmütiges Bedauern ob dem, was der eherne Schritt
der Zeit niedertreten musste an jahrhundertealter Schönheit eines Bildes, das
unter dem Schutz und Schatten der Nikolaikirche so lange die bunten Reize
mannigfaltigen Lebens entfaltet hatte und voll Kraft und derber Natürlichkeit
steckte, wie Gemälde altniederländischer Meister der Farbe.
Allzu herbe und wahrhaftig nicht immer sehr glücklich fährt hier die
neue Zeit hastig zwischen das Gewühl der handelnden und kaufenden Menschheit. Fährt,
im eigentlichen Sinn des Wortes aufzufassen. Denn von der höher liegenden
Straße aus sieht man mit erschreckender Deutlichkeit, wie sich der blitzende
Schienenring der elektrischen Bahnen rings um den Markt erdrückend eng legt,
wie sich ihre Wagen unter unausgesetztem Läuten mitten durch die drängenden
Menschen und harrenden Fuhrwerke der Gemüsehändler mühsam durchquälen müssen.
Oberhalb des Markttreibens aber, auf den fest gefügten Mauern der
Eisenbahn-Überbrückung, da lebt und schafft das, was in Wahrheit großzügig ist
an der Neuzeit. Signalarme schnellen auf und ab, aus dem weit aufgerissenen
Schlund der Hauptbahnhofshalle flüchten die Züge in unausgesetzter Folge, oder
gleiten hinein, als ob sie sich bedingungslos einer dunklen Schicksalsmacht anheim
geben müssten. Gelles Pfeifen schneidet die Luft, wie Arme, die erschrocken
hoch fahren. Ein stampfen, ein dröhnendes Vorwärts hasten klirrt über die
Eisenschienen und schüttert mit rollendem, dumpfem Laut auf den
Straßenüberführungen. Der Verkehr, der die Welten verbindet, wettert vorüber.
Und unsichtbar über die Brüstung der Eisenbahnbrücke gelehnt, sieht
die neue Zeit auf das Getriebe des Marktes, eingehüllt in die Schwingungen des
Lärms, ohne die Sie nicht denkbar ist.
Es ist anders wie am Hopfenmarkt, wo aus der hohen Luke des
Nikolaiturms die Vergangenheit nieder schaute, ungetan mit jenem eindringlichem
Schweigen, das die Jahrhunderte mit sich führen.
Zeit wird es, dass ich mich auch mitten hinein in das Marktleben
stürze. Allzu lange stand ich auf einer Stelle. Ein Schutzmann wurde schon auf
mich aufmerksam und schätzt mich mit musternden Blicken ein. Schutzmannsblicke
vermögen es, bei dem unschuldigsten Unterton urplötzlich ein schlechtes
Gewissen aufkeimen zu lassen. Und das ist eine zwecklose Nebenbeschäftigung.
Die Buntheit auf dem Markt ist reich in ihren Farben wie der Herbst
selbst. Eintönig sind allein die Kleider der Menschen. Verschwunden,
eingestampft von der nüchternen Allgemeinheit scheinen die Trachten der
Vierländerinnen, nichts sieht man noch von der Eigentümlichkeit der
Bardowieker, kein Altenländer Kopfschmuck drückt wie einst das glatte
Scheitelhaar der einzelnen Frauen. Es ist ein Jammer, diese verhängnisvolle
Wirkung neuer Tage!
Mit den ausgeprägten Merkmalen ihres Daseins versehen, drängen sich
Hafenlöwen mit schwimmenden Schnapsäuglein im Wiegeschritt zwischen den Ständen
hindurch. Bereit, für wenig Entgelt volle Körbe an die wartenden Wagen zu
schleppen, um dann so rasch wie möglich die erworbene Scheidemünze in Feuerwasser
aufzulösen.
Marktbeamte wandern von Stand zu Stand, um das Marktgeld
einzufordern, das je nach Größe des einzelnen Raumes von 60 Pfennig bis zu 1,20
Mark schwankt. Alles spielt sich mit kameradschaftlicher Gemütlichkeit ab.
Auf einem Kürbis von Achtung gebietender Ausdehnung hockt ein feistes
Bäuerlein und wickelt mit stoischer Ruhe von diesem harten, gelben Thronsessel
aus seine Kaufgeschäfte ab. Er sitzt fester als der kleine Kaiser von China und
weiß nichts von revolutionären Unterströmungen. Langsam bummle ich von Stand zu
Stand, um ab und an ungewollt rasch vorwärts zu schieben, wenn einer der Träger
mit wohlgezielten Stößen mir seine leeren Körbe in die Kniekehlen rennt, was
sehr oft der Fall ist.
Die Oktobertage stehen im Marktleben unbedingt im Zeichen der
Kohlsorten. Wohin man sieht, flegeln sich die dicken, runden Kohlköpfe herum,
und es ist erstaunlich, was für eine Fülle von Farbe auf ihren festen, feisten
Kugelgesichtern liegt. Bläulichrot, wie das Gesicht eines Mannes, dem der
ständige Aufenthalt in Wetter und Wind unzählige kleine Blutgefäße zum Springen
brachte, so guckt der Rundschädel des Blaukohls aus den dicht geflochtenen
Marktkörben heraus und schielt neugierig über den Rand nach seiner
wohlgenährten Freundin Weißkohl, die ein lichtgrünes Überkleid auf gelbweißen
Grund angetan hat. Unweit von ihrem Platz hat sich sein gefährlichster
Nebenbuhler aufgestellt. Aus sattem Dunkelgrün ist der feste Rock, mit
verführerisch gekräuseltem Hauptschmuck und seiner fremdländischen Abstammung
steckt er für die Damenwelt voll besonderer Reize, es ist der Savoyerkohl, der
dort seiner Stunde wartet.
Ängstlich besorgt schlingen sich mütterliche Blätterarme schützend um
die jungen, unschuldig weißen Köpfe des Blumenkohls. Mit bissigen Gesichtern
und verkümmert dünnen Leibern, wie böse, alte Weiber, hockt der Lauch da. Die
kleinen dünnen Wurzelfasern starren von den Köpfen wie ausgemergelte kleine
Straußenfedern auf einem vorsintflutlichen Kapotthut. Dazwischen, in
wohltuender Gemütlichkeit, Zwiebeln aller Sorten und Größen, Bauersfrauen,
angetan mit sechs farbigen Unterröcken und einem rotbraunen Warprock darüber.
Unweit davon ganze Wagenladungen Steckrüben. Mit ihrer gelben Haut
und dem abgeschnittenen Kohlstrunk sehen sie aus wie Chinesenköpfe, die durch
die Mandschutöter ihre Zöpfe verloren haben.
Auf der anderen Seite des Marktes leuchtet es da und dort auf, wie
blaßrote Blutstropfen. Es sind Körbe voll Hagebutten, ganze Kisten von
Preiselbeeren und dann wieder, dicht aneinander gedrückt, Radieschen mit
gesunden, roten Pausbacken. Rettiche in weißem und schwarzem Mönchshabit stehen
ernsthaft dazwischen. Gelbrot, in bauschigem Umfang, leuchtet das Röcklein der
hübschen Bauernmädel, der Mohrrüben, auf. Englische Gurken und Kopfsalat füllen
Kisten und Körbe. Die knirschenden Blätter des Winterspinats sind in heller
Menge vorhanden, ebenso die düstere Schwarzwurzel und die gewichtige Dame
Sellerie. Auf dem Fruchtmarkt duften späte Himbeeren, dunkelblaue Pflaumen,
Birnen in allen Farben, vom blassen Gelb bis zum leichten Rot, füllen die
Obsttonnen. Äpfel übertrumpfen ihre Färbung mit ihren runden, knallroten
Backen. Italienischer Wein, mit seiner glasharten, grünlichen Beere, liegt
friedlich neben der deutschen Traube.
Wie vertrocknete alte Jungfern, die sich tief im Innern überraschende
Süße vergangener Sonnentage bewahrt haben, liegen verhutzelte Feigen. Herbe
Granatäpfel mit ihrem kernreichen Gehäuse Drängen sich dicht neben gelbrote,
stark duftende Quitten. Stechend Gelb, als hätte der Neid sie gefärbt, hocken
die Zitronen zusammen, in flammendem, glasigen Rot fiebriger Erwartung die
Tomaten. Bis zum Rand gefüllt stehen Körbe mit frischen Walnüssen, die für den
harten Kampf mit den Wettern des Lebens ein festes, rotbraunes Panzerhemd
angelegt haben. Hier und da in schlichtem Braun, die weiche, köstliche
Mispelfrucht, die nur den Kenner lockt. Volle Bananenäste, ganze Ladungen
Ananas ziehen die Käufer stark an. Mitten aus dem Markt heraus ragt das
Baugerippe der werdenden Erdbeerhalle, das Eisengestänge rot Überlaufen von der
schützenden ersten Farbe.
In ihrer Nähe liegen die Durchgangswege, die hinab zu den groß
angelegten Marktkellern führen. Weiße Fliesen auf den Fußsteigen, helle
Glasursteine an den Wänden. Eisige Grabesluft haucht dort unter der Erde eine Kälte
aus, die bis ins Mark fühlbar ist. Man glaubt sich unmittelbar in die
unterirdischen Grabgänge Roms versetzt, beim ersten Schritt hinab. Wie
versunkene Straßen mutet das Ganze an. Und Namen führen auch die einzelnen
Wege.
Durch den Vierländergang wandte ich mich. In kurzen Abständen
düstersten kleine elektrische Glühbirnen. Rechts und links zieht sich hohes
festes Drahtgeflecht, dahinter unter sicherem Verschluss die Keller der
einzelnen Marktleute. Stapel von Körben türmen sich auf. Dumpf und hart schallt
das vereinzelte Schreiten von Menschen. Der Oberwelt wandte ich mich wieder zu
und trat an den nahen Wasserarm, wo die Vierländer und Altenländer Kähne, dicht
aneinander geschoben, festgemacht hatten. Eben werden die leeren Körbe
verstaut, die alle verschiedene Zeichen ihrer Eigentümer in bunten Farben
tragen. Es ist später Nachmittag geworden, das Marktgewühl beginnt sich zu
lichten. Und auch ich zwänge mich durch, den häuslichen Penaten zu, um am
kommenden Morgen rechtzeitig beim Blumenmarkt anzutreten.
Der neue Tag brachte triefenden Nebel. Die dampfenden, feuchten
Schwaden warfen sich rücksichtslos allem entgegen, das sich ihnen in den Weg
stellte. Hart bedrängten sie vor allem die zuckenden Lichter auf der Straße.
Das rote, drohende Licht der Signallaternen an den Eisenbahnschienen ward
furchtsam und duckte sich, erschrocken zusammenscheuernd. Wie eine zuckende,
nach Atem ringende Kette von Leuchtkörpern verschwammen die Laternenreihen und
schienen in dem dunklen Einfahrtstor des Hauptbahnhofes unterzugehen, zu
verlöschen.
Es ist kurz nach sechs Uhr. Leute der Arbeit oder Reisende sind
alleinige Beherrscher der Straßen. Nun fängt der Nebel an, sich in schüttenden
Regen zu wandeln. Die Blumen unten auf dem neuen Markt ficht er wenig an. Sie
scheinen nur erfreut sich aufzurecken, als genössen sie vergnügt die kühle
Morgensuppe. Gleich am Anfang des Marktbereichs lagern ernste, dunkelgrüne
Tannenkränze, Vorboten des kommenden Totenmonats. Astern, von der alten,
schlichten Stammmutter angefangen, bis zu den großen veredelten Sorten, gibt es
in großer Fülle. Stechendes Gelb, Rostrot und sattes Braun führen sie im
Wappen. Lila in allen Farbenwandlungen, vom blassen bis zum dunkelsten Ton,
düstert aus den gefüllten Körben.
Winzige Sternblumen schütten im scharfen Luftzug entsetzt die
Köpflein, wie verzärtelte Prinzessinnen, aus dem Märchenland. Dahlien
beanspruchen ihren Platz, und die dickköpfigen Levkojen und breiten Georginen
sehen aus, als seien sie unmittelbar aus Großmutters verwildertem Gärtlein herüber
gekommen in die fremde Welt. Heidekraut, in Töpfe gezwängt, träumt von
vergangenen freien Tagen.
In herber Abwehr recken Stechpalmen ihre Blätterarme von sich; wie
blutige Tränen, die sie weinten, als man sie brach, leuchten roten Beeren aus
ihrem düstergrünen Kleid.
Und mit raffenden Armen kommen die Straßenhändler, um sich ihren
Tagesbedarf an Blumen zu holen.
Und auch diese wissen nicht, wie die Menschen, was ihnen Tag und
Abend ihres Lebens bringen wird, und wo das letztet Welken über sie kommt.
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12978)
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12978)
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