05.
Juni 1910, Hamburgischer Correspondent
Dass die Landwirtschaftliche Ausstellung sich mit vollem Recht „Wanderausstellung“
nennt, wird jedem klar, der seit ihrer Eröffnung versucht, auf altgewohnte
Weise durch Hamburgs Hauptstraßen zu schlendern oder eines der bekannten
Atzungslokale aufzusuchen.
Der ganz simple, nur seine lumpigen Steuern zahlende Hamburger Bürger
wird durch diese friedliche Invasion einfach glatt an die Wand gedrückt.
Figürlich gesprochen, was für den gewiegten Kenner unsrer inneren Politik gar
nicht, aber auch gar nicht verblüffend wirkt.
Überall da, wo Hamburg am meisten Hamburg für den Fremden ist –
Jungfernstieg, Neuer Wall, Uhlenhorster Fährhaus, St. Pauli – sieht man die
Herren vom Nährstand in Trupps zu Vieren, Fünfen einherstapfen, unbedingt den
Fußsteig völlig einnehmend, die Gesichter wohltuend gesund, schwarzbraun oder
brennrot eingebrannt, und diese scharfen Sezessionstöne noch gehoben durch den
kalkweiß wirkenden Rand der Stehkragen. Diese Stehkragen, genau so
grundverschieden wie die Spielarten der geselligen Formen ihrer Träger, weisen
die neueste Facon auf bis zu völlig ungeahnten, sonderbaren Ausgrabungen
anscheinend fossiler Funde.
Die bäuerlichen, symphytischen Kraftgestalten unter den Landleuten,
die nichts anderes sein wollen, als was sie sind – Herren der Scholle – tragen
alle den Ausstellungskatalog mit sich umher, und etwas von großgewordenen
Kindern liegt in ihren klaren, ruhig beobachtenden Augen.
Die Junker, in deren Art das bescheidene Zurücktreten sonst nicht
gerade zu liegen pflegt, verschwinden fast unter der Masse der schlichten
Landwirte. Wo sie aber auftreten, haben sie, um nur gleich im angemessenen
Lokalton zu bleiben, stets einen städtischen „Leithammel“ bei sich, der sich
leicht geniert fühlt und durch seine fahle Stadtfarbe die lebenstrotzenden
Gesichter seiner Landfreunde noch wirkungsvoller macht.
Und wie die alten Deutschen im Kampf stets ihre starkmutigen Frauen
mitführten, die so tapfer im Getümmel aushielten und sich töteten, wenn ihre
Männer gefallen waren, so nahmen auch viele dieser Herren vom Lande – ob
freiwillig, bleibe dahingestellt – ihre
Frauen mit nach Hamburg in den Kampf. Auch diese halten im dichtesten Getümmel
tapfer aus; aber sie sind doch schon zu modern und zu gesund, um sich gleich zu
töten, wenn ihre Männer fallen sollten als Opfer des Molochs Großstadt. In
praktischer Erkenntnis der Lage der Dinge suchen sie dagegen, solange es an der
Zeit ist, den Geldbeutel ihres Gatten nach Möglichkeit zu schröpfen, ehe etwa
sonstige Hände darüber kommen könnten. Auch eine Art Musterschutz.
Man muss diese Frauen gesehen haben, um ganz beruhigt über
Deutschlands Zukunft zu sein. Sie liegt unbedingt auch „auf dem Lande“. Meist
zielbewusster, rascher, rücksichtsloser als die vorsichtig überlegenden Männer,
durchstürmen sie zugleich als Kampfobjekt im Gedränge.
Eigenartige Farbensymphonien schillern uns aus ihren Kleidern
entgegen. Wundersame Kleider sind das manchmal – man sieht es ihnen an, dass
sie extra für die sicher vielbesprochene Hamburger Reise hergestellt sein
müssen, und zwar aus eigner Kraft, wie alles, was die Landwirtschaft bisher
erreicht hat.
Die Typen wiederholen sich ziemlich regelmäßig. Eine ist immer schon
mal dagewesen. Tut sehr übersättigt und orientiert, denn sie macht ihre
Weihnachtseinkäufe sogar in Berlin. Weiß selbst, wo das Dorado aller Damen,
Hübner oder Chatelaine, liegt und stürzt sich kühn in den ihr noch unbekannten
Jardin des Fleurs. Dann wendet sich die Globetrotterin mit der hilflos und
andächtig folgenden Herde der „Neulinge“ nach der Richtung des Jungfernstiegs.
Mit innerlichem Bangen, aber äußerlich krampfhafter Sicherheit attackiert sie
einen Schutzmann:
„Bitte, wo komme ich am schnellsten nach den
Alsterdampfern?“
Und er, bestrickend liebenswürdig, wie ihn die armen Berliner nur in
ihren kühnsten Träumen kennen, weist ihr lächelnd den Jungfernstieg.
„Ja, den kenne ich – komme ich dort aber auch nach
der Alster?“
Und dann die Ausstellung!
Wenn so viel Vieh ganz allein auf einem Feld zusammen gebracht wird,
bildet sich schließlich auch der Stadtbewohner ein, dass der selige Podbielski
wirklich einmal recht hatte, wenn er behauptete, dass es eine Fleischnot nicht
gibt, wird übermütig und unternimmt einen Bummel in die Fouragehallen Hamburgs.
Das tat auch ich, und erlebte auf dem Wege dahin noch zwei niedliche
Lebensäußerungen der wandernden Landwirtschaft. Ein flotter Landmann, seine
Gattin fest am Arm, auf dass sie ihm ja nicht an einem gefährlich lockenden
Schaufenster hängen bliebe, geht an einem Hedag vorbei und explodiert vor
lachen, unerwartet, wie ein Benzinmotor.
„Blödsinnig, so `ne verrückte Bezeichnung! Hedag! So
was können sich nur diese Großstädter leisten.“
Die lachen mit, am meisten aber der Chauffeur der H.E.D.A.G
(Hamburger Elektrizitätsdroschen Aktien Gesellschaft). Als diese Seitenlinie
der Landwirtschaft über die schönste Straße unseres nordischen Venedigs, den
Jungfernstieg, zieht und dort zwar keinen Markusplatz, wohl aber einen
Alsterpavillon mit seiner wahren Heerschau Tauben, antrifft, die sich zwischen
die Fußgänger drängen, als hätten sie allein das Recht auf die Straße – frei
nach Jagow, reißt sich die Vertreterin der Landwirtschaft vom sicheren Arm des
braungebrannten Gatten los und meint ganz empört:
„Tauben – auf der Straße? Um das zu sehen, brauchten
wir nicht nach Hamburg zu kommen.“
Dankbar für die genossenen unerwarteten Anregungen schlendre ich nach
Atlantic-Pfordte. Lande auch dort gerade neben dem rechten Tisch. Während mir
die allezeit lustige Witwe Cliquot, die stets schweigt und doch zu so vielen
Dingen überredet, die trockene Kehle anfeuchtet, beobachte ich stillvergnügt,
was da neben mir vor sich geht. Man macht es mir auch absolut nicht schwer. Der
ganze Saal ist bald, gleich mir, über Familienverhältnisse, Namen und Stellung
jedes einzelnen dieser fidelen Tafelrunde informiert, so laut ist die
Unterhaltung. Der weißbärtige Rittergutsbesitzer und die zwei
Gardekavalleristen in Zivil mit dem Eifelturmhohen Kragen gehören zusammen,
stehen im „Familienverbande“ – alles Namen von bestem, altem Klang – während
ein ganz bürgerlicher Rittergutsbesitzer nebst hübscher Tochter etwas die Outsiderrolle
spielen. Der alte mit forcierter Kameradschaftlichkeit unverkennbar um die im
Kreis schwerwiegende Gunst des jovialen, blaublütigen Landsmanns buhlend, der
in einem ungestörten Augenblick einem seiner Neffen zuflüstert:
„Der Mann hat den Adelshunger!“
während die hochblonde Tochter mit dem einen Kavalleristen ein
intensives fachweibliches Pferdegespräch unterhält. Augenblicklich ist sie
damit beschäftigt, an mehrere Freundinnen Ansichtskarten zu schreiben. Als sie
die Karten dem originellen alten Ritter vom Lande zuschiebt, meint der lachend:
„Nee, verschonen Sie mich damit, gnädiges Fräulein!
Ich fahr lieber mit meinen Junkern über Land wie mit `nem Bleistift übers
Papier. Befolge das gute Sprüchel: Wegen zu alten Adels des Lesens und
Schreibens unkundig.“
Verlegen auflachend nimmt die gar nicht kühle Blonde ihre Karte an
sich, und der Alte fasst nach der Sektflasche und ruft dem Neffen zu:
„Na, Jürgen, frischer Durst ziert den Reiter.
Schütte doch endlich mal den schäbigen Rest in Deine Futterluke, der
Knallkümmel steht ja sonst ganz ab.“
Und das Töchterlein des Outsiders, nunmehr die unvermeidliche
Zigarette zwischen den Fingern, erschöpft ihren „Pferdeverstand“ und ihre
glänzenden Kenntnisse des Gothaer Taschenbuches der uradeligen Häuser, um vielleicht
in die ersehnte vornehme Ehe hineinzureiten.
Scharfe Gegensätze erhöhen den Eindruck frisch erlebter Einzelheiten.
Deswegen fahre ich, kurz entschlossen, nach St. Pauli, wo das Bier heut´ sicher
ganz besonders gut läuft. Und mit dem unverfälschten Spürsinn, der jedes
gesunde Geschöpf zur Futterkrippe führt, haben die biederen Landleute sich auch
in dem Bierpalast eingefunden.
Unter dem großen Bild, auf dem ein junges Weib im Zustand der
Urbekleidung auf einem Felsvorsprung hockt, sitzt eine ganze handfeste,
urwüchsige Bauernfamilie. Zwei derbe Söhne, der stiernackige, hünenhafte Alte
und die abgearbeitete magere Mutter. Sie sitzt im schwarzen, feierlichen
Kirchenkleid förmlich andächtig da; dann nimmt sie bedächtig den Hut mit dem
Gemüse ab, und zwei mit Wasser schön glatt gestrichene Scheitel glänzen auf. Plötzlich
entdeckt sie bei dieser Manipulation die Nudität über sich. Mit einem:
„Och, aber nee, so was aber auch!“, setzt sie sich
ganz entsetzt direkt unter das Bild, um es nicht ansehen zu müssen, doch ihre
Versuche, die Söhne auch vor diesem Anblick zu bewahren, schlagen fehl. Sie
grinsen, der Bauer lacht und meint:
„Unser Jungvieh ist in besserem Futterzustand wie
die Puppe da oben, gell Mutter?“
Aber Mutter ignoriert diese Frivolität. Dann kommt der Kellner und
setzt mit kordialer Herablassung das Essen auf den Tisch. Als er gegangen,
steht die alte Frau auf, wie sie es wohl daheim gewohnt sein mag, und legt den
Männern sorgsam abwägend das Essen vor, sie aber nimmt sich das Kleinste – nach
Mutterart. Diese einfache, kleine, heimatliche Gepflogenheit im großstädtischen
Treiben des überfüllten Lokals rührt mich förmlich. Darin allein lag so viel
starkes, gesundes Festhalten am Altgewohnten, ein solch zähes Wurzeln in der
Scholle der Heimat. Die ganze Kraft unseres bodentreuen Bauernstandes zuckt mir
blitzartig aus der schlichten Handlung dieser Alten entgegen.
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12917)
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