29. Mai
1910, Hamburgischer Correspondent
Fast sommerschwer waren die Tage der letzten Woche auch für Hamburg,
und mit einer für uns ungewohnten Gleichmäßigkeit verrannen sie, ohne das Regen
mit nassen Fingern in ihr Sonnenleben gegriffen hätte.
Und Sommerlüfte
strichen zur Mittagszeit über die breiten Fluten der Alster, die ab und an
aufblitzte, wenn die Sonne ihre Strahlenhände in ihre weiten Wasser tauchte. An den langgestreckten
Harvestehuder und Uhlenhorster Ufern aber drängte sich eine solche Fülle von
Schönheit auf Büschen und Bäumen, wie sie sonst nur der deutsche Süden in
seiner kurzen, überreichen Frühlingszeit vor uns ausschüttet.
Mächtig breiten sich Hängebuchen in bizarren Formen aus, die hier und
da an urweltliche, langgezerrte Körper sprungbereiter Saurier gemahnen, und
durch das helle Grün der mächtigen Ulmen, Rüstern-Pappeln und Eichen da flammt und flirrt es in einer
Ursprünglichkeit der Farben, in einer überwältigenden Fülle großzügiger Formen
– es sind blühende Büsche und Bäume in ihrer jungen Farben Glühen.
Wie in Blut getaucht
hängen die Äste des dunklen Rotdorns schwer darnieder, unter der Macht der drängenden
Blüten, blendend fast leuchtet der Weißdorn dazwischen, und die schweren,
duftenden Dolden des weißen, roten, lila Flieders, der Schneeball und der
gleißende Goldregen wissen kaum wohin mit all der quellenden Pracht. Die
Rhododendren aber veranstalten wahre Farbenorgien in tollem, ungezähmten
Blühen. Zwischen dem Ganzen aber halten in langgestreckten Armen alte Kastanien
leuchtende Blütenkerzen über all das Sein und Wachsen und werden der Arbeit
nicht Müde, Tag und Nacht. Kein Wunder, dass sich
im Abenddämmern, wo die frühsommerliche Schwere der Lüfte sich löste, die
schönste Perle in Hamburgs reicher Krone, die Alster, mit Booten füllte, die
sich drängten und in so starker Anzahl vorüber glitten, wie zur Sommerzeit.
Vom schmucken Hausboot,
gegenüber dem Uhlenhorster Fährhaus, weht die Flagge, tönt Lachen und frohes
Stimmengewirr, hier und da taucht urplötzlich, fast lautlos, neben unserem Boot
ein schlanker Segler auf, wie ein fremder, schöner Nachtvogel mit gewaltigen,
dräuenden Schwingen, und gleitet vorüber, tief in die fahle Dämmerung.
Schnelle Kanus, die
anscheinend eine immer stärkere Zahl Liebhaber und Liebhaberinnen finden, denn
ihrer werden von Jahr zu Jahr mehr, schieben sich zwischen Paddelbooten und
„Seelenverkäufern“ hindurch. Mietboote, die nicht immer die größte Schönheit
drückt, was Aussehen und Form anlangt, die aber meist durch lebensvollen Inhalt
entschädigen, arbeiten sich mit mehr oder weniger Geschick durch das Gewirr und
verstehen es oft meisterlich, sich rücksichtslos an den glatten Mahagoniplanken
schöner Eigenboote vorbei zu reiben, wenn es gilt, in die Fährhausbucht zu
rudern und dort ihren Anteil an Musik und Wasserflirt zu beanspruchen.
Auf dem Anlegesteg ein
Hin und Her von hastenden oder beschaulichen Menschen, unaufhörlich und mit
sorgfältigem Eifer tönen die Warnungspfeifen der Alsterdampfer, deren
Fahrwasser mit kecker Unverfrorenheit immer wieder im allerletzten Augenblick
von jagenden Ruderbooten gekreuzt wird. Hier und da gleitet schwerfällig,
dunkel und plump eine leere Schute heimwärts, anscheinend müde vom Tagewerk,
der vielgetürmten alten Stadt zu, deren wunderbare klare und einzig schöne
Silhouette sich scharf umrissen hochreckt und abhebt vom Abendhimmel. Leise
schwimmen ein paar Nachtschwärmer unter den vielzähligen Alsterschwänen herbei
und umkreisen furchtlos die Boote, als seien sie sich ihrer wohlverbrieften
vielen und reichen Rechte bewusst, die sie sich im Lauf der Zeiten schon ererbt
und erworben haben. Und über dem eigenartigen, schwermütig schönen Bild
leuchtete der Mond – steht der vielbesprochene und so unansehnliche berühmte
Halleysche Komet. Ein verwaschener Nebelfleck. Er sieht abgelebt aus, ganz
einfach, der würdige, alte Herr – kein Wunder, bei einem so ausgiebigen, viel
tausend Jahre alten Himmels-„Dom“bummel! Die irdische Beleuchtung ist hier
einmal die weitaus reizvollere!
Tausendfach spiegeln
sich in den dunklen, völlig unergründlich dräuenden Wassern die Lichter von den
Ufern her, verschwommen brechen sich die gelblich-weißen, matt erscheinenden
Strahlen in der atmenden Flut. Plötzlich gleiten durch ihre bescheidene Helle
huschende Boote, um rasch, wie erschrocken, wieder ins Dämmerdunkel zurück zu
tauchen. Maleraugen und
Dichterherzen müssen aufleuchten und höher schlagen – abends auf der Alster! Es
gibt in Deutschland nur eine Stadt, wo weltstädtische Größe und wunderbare,
herbe Naturschönheit so eng miteinander verbunden sind – wie in Hamburg!
Und über das Wasser
drängen und schwellen die Klänge der Kapelle vom Uhlenhorster Fährhaus her, in
der Bucht davor sieht man nur Boote und lachende oder verträumte Menschen. Dass
das Wasser sie alle hält, merkt man allein an der leichten Beweglichkeit der
Planken, die das Menschengewirr da tragen – so dicht liegen Rand an Rand die
Boote über dem schier verdeckten Wasser. Kein Wunder auch, dass
sich hier und da, von Boot zu Boot, dort leise, hier aufdringlicher, der sehr
beliebte Wasserflirt entwickelt, oft wohl nur „einen Sommer lang“ – um dann, in
logischer Folge seiner ursächlichen Entstehungsgeschichte, wieder zu Wasser zu
werden.
Da – urplötzlich – ein aufzuckendes
Leuchten, ein weiterrinnendes, blendendes Flammen – das Fährhaus hat seinen
Kaiserschmuck angelegt, und in schimmernden, förmlich durchsichtig
erscheinenden Umrissen liegen die hellen, lichtumfassten Gebäude da. Nun aber
zuckt es auf, noch einmal, und in langen, langen Lichtranken ziehen sich
Leuchtketten von Baum zu Baum, flirrt und scheint es wie riesige Irrlichter aus
einem Sommernachtstraum im starken Geäst der laubdichten Bäume des lichten
Gartens.
Und dunkler scheinen
die Wasser zu werden und sich weiter und weiter zu recken nach ungekannten
Ufern – und leise und lautlos breitet die Nebelfrau ihre feuchten,
spinnwebfeinen Linnen überall aus, wo sie Platz findet, und greift in die
tonlos niederrieselnden Wasser, um ihre schlohweißen Hände zu kühlen – und siehe,
es sprühen Nebeltropfen auf.
Es ist spät geworden
auf der Alster.
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12917)