Sonntag, 23. August 2015

Abend auf der Alster


29. Mai 1910, Hamburgischer Correspondent  


Fast sommerschwer waren die Tage der letzten Woche auch für Hamburg, und mit einer für uns ungewohnten Gleichmäßigkeit verrannen sie, ohne das Regen mit nassen Fingern in ihr Sonnenleben gegriffen hätte.
Und Sommerlüfte strichen zur Mittagszeit über die breiten Fluten der Alster, die ab und an aufblitzte, wenn die Sonne ihre Strahlenhände in ihre weiten Wasser tauchte. An den langgestreckten Harvestehuder und Uhlenhorster Ufern aber drängte sich eine solche Fülle von Schönheit auf Büschen und Bäumen, wie sie sonst nur der deutsche Süden in seiner kurzen, überreichen Frühlingszeit vor uns ausschüttet.
Mächtig breiten sich Hängebuchen in bizarren Formen aus, die hier und da an urweltliche, langgezerrte Körper sprungbereiter Saurier gemahnen, und durch das helle Grün der mächtigen Ulmen, Rüstern-Pappeln und Eichen  da flammt und flirrt es in einer Ursprünglichkeit der Farben, in einer überwältigenden Fülle großzügiger Formen – es sind blühende Büsche und Bäume in ihrer jungen Farben Glühen.

        
Wie in Blut getaucht hängen die Äste des dunklen Rotdorns schwer darnieder, unter der Macht der drängenden Blüten, blendend fast leuchtet der Weißdorn dazwischen, und die schweren, duftenden Dolden des weißen, roten, lila Flieders, der Schneeball und der gleißende Goldregen wissen kaum wohin mit all der quellenden Pracht. Die Rhododendren aber veranstalten wahre Farbenorgien in tollem, ungezähmten Blühen. Zwischen dem Ganzen aber halten in langgestreckten Armen alte Kastanien leuchtende Blütenkerzen über all das Sein und Wachsen und werden der Arbeit nicht Müde, Tag und Nacht. Kein Wunder, dass sich im Abenddämmern, wo die frühsommerliche Schwere der Lüfte sich löste, die schönste Perle in Hamburgs reicher Krone, die Alster, mit Booten füllte, die sich drängten und in so starker Anzahl vorüber glitten, wie zur Sommerzeit.
 
Vom schmucken Hausboot, gegenüber dem Uhlenhorster Fährhaus, weht die Flagge, tönt Lachen und frohes Stimmengewirr, hier und da taucht urplötzlich, fast lautlos, neben unserem Boot ein schlanker Segler auf, wie ein fremder, schöner Nachtvogel mit gewaltigen, dräuenden Schwingen, und gleitet vorüber, tief in die fahle Dämmerung.
Schnelle Kanus, die anscheinend eine immer stärkere Zahl Liebhaber und Liebhaberinnen finden, denn ihrer werden von Jahr zu Jahr mehr, schieben sich zwischen Paddelbooten und „Seelenverkäufern“ hindurch. Mietboote, die nicht immer die größte Schönheit drückt, was Aussehen und Form anlangt, die aber meist durch lebensvollen Inhalt entschädigen, arbeiten sich mit mehr oder weniger Geschick durch das Gewirr und verstehen es oft meisterlich, sich rücksichtslos an den glatten Mahagoniplanken schöner Eigenboote vorbei zu reiben, wenn es gilt, in die Fährhausbucht zu rudern und dort ihren Anteil an Musik und Wasserflirt zu beanspruchen.

Auf dem Anlegesteg ein Hin und Her von hastenden oder beschaulichen Menschen, unaufhörlich und mit sorgfältigem Eifer tönen die Warnungspfeifen der Alsterdampfer, deren Fahrwasser mit kecker Unverfrorenheit immer wieder im allerletzten Augenblick von jagenden Ruderbooten gekreuzt wird. Hier und da gleitet schwerfällig, dunkel und plump eine leere Schute heimwärts, anscheinend müde vom Tagewerk, der vielgetürmten alten Stadt zu, deren wunderbare klare und einzig schöne Silhouette sich scharf umrissen hochreckt und abhebt vom Abendhimmel. Leise schwimmen ein paar Nachtschwärmer unter den vielzähligen Alsterschwänen herbei und umkreisen furchtlos die Boote, als seien sie sich ihrer wohlverbrieften vielen und reichen Rechte bewusst, die sie sich im Lauf der Zeiten schon ererbt und erworben haben. Und über dem eigenartigen, schwermütig schönen Bild leuchtete der Mond – steht der vielbesprochene und so unansehnliche berühmte Halleysche Komet. Ein verwaschener Nebelfleck. Er sieht abgelebt aus, ganz einfach, der würdige, alte Herr – kein Wunder, bei einem so ausgiebigen, viel tausend Jahre alten Himmels-„Dom“bummel! Die irdische Beleuchtung ist hier einmal die weitaus reizvollere!
          
Tausendfach spiegeln sich in den dunklen, völlig unergründlich dräuenden Wassern die Lichter von den Ufern her, verschwommen brechen sich die gelblich-weißen, matt erscheinenden Strahlen in der atmenden Flut. Plötzlich gleiten durch ihre bescheidene Helle huschende Boote, um rasch, wie erschrocken, wieder ins Dämmerdunkel zurück zu tauchen. Maleraugen und Dichterherzen müssen aufleuchten und höher schlagen – abends auf der Alster! Es gibt in Deutschland nur eine Stadt, wo weltstädtische Größe und wunderbare, herbe Naturschönheit so eng miteinander verbunden sind – wie in Hamburg!
Und über das Wasser drängen und schwellen die Klänge der Kapelle vom Uhlenhorster Fährhaus her, in der Bucht davor sieht man nur Boote und lachende oder verträumte Menschen. Dass das Wasser sie alle hält, merkt man allein an der leichten Beweglichkeit der Planken, die das Menschengewirr da tragen – so dicht liegen Rand an Rand die Boote über dem schier verdeckten Wasser. Kein Wunder auch, dass sich hier und da, von Boot zu Boot, dort leise, hier aufdringlicher, der sehr beliebte Wasserflirt entwickelt, oft wohl nur „einen Sommer lang“ – um dann, in logischer Folge seiner ursächlichen Entstehungsgeschichte, wieder zu Wasser zu werden.
        
Da – urplötzlich – ein aufzuckendes Leuchten, ein weiterrinnendes, blendendes Flammen – das Fährhaus hat seinen Kaiserschmuck angelegt, und in schimmernden, förmlich durchsichtig erscheinenden Umrissen liegen die hellen, lichtumfassten Gebäude da. Nun aber zuckt es auf, noch einmal, und in langen, langen Lichtranken ziehen sich Leuchtketten von Baum zu Baum, flirrt und scheint es wie riesige Irrlichter aus einem Sommernachtstraum im starken Geäst der laubdichten Bäume des lichten Gartens.
Und dunkler scheinen die Wasser zu werden und sich weiter und weiter zu recken nach ungekannten Ufern – und leise und lautlos breitet die Nebelfrau ihre feuchten, spinnwebfeinen Linnen überall aus, wo sie Platz findet, und greift in die tonlos niederrieselnden Wasser, um ihre schlohweißen Hände zu kühlen – und siehe, es sprühen Nebeltropfen auf.

Es ist spät geworden auf der Alster.

(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12917)