08. Mai
1910, Hamburgischer Correspondent
In unserer Zeit blendender Erfindungen, nüchterner Tatsachen und
hastender Unruhe gibt es so mancherlei nachdenkliche Leute, die noch gern
hinüber lauschen auf das, was voll Kraft und Eigenart das deutsche Mittelalter
sang und schuf, die mit liebevoller Andacht dem nachgehen, was der Väter Geist
und köstlicher Kindersinn und hinterließ an gewaltig getürmten Bauwerken und
sonderbar schönen Bildnereien, die allesamt bis ins kleinste hinein
kristallisierte Gedanken und Empfindungen enthalten und darstellen. Für jene besonderen unter den Leuten ist Lübeck, das frühe Haupt des
mächtigen Hansabundes, dessen Name ja in der jüngsten wirtschaftlichen Bewegung
wieder zu Ehren kommt, eine der köstlichsten und schier unerschöpflichsten
Fundgruben.
Und es ist sonderbar.
Als ob die Gewalt, die förmlich bannende Macht scheinbar
verflüchtigter Zeiten dort überragend und noch lebensfähig wären - scheint
alles Neuzeitliche im alten Lübeck ein erzwungenes Schattendasein zu führen.
Ja, es wirkt fast störend für das Gesamtbild des alten Stadtteils, dass dort
elektrische Bahnen sich mühsam auf den Straßen vorwärts bewegen müssen. Sie
passen nicht zu der stillen Versonnenheit, die sogar bei den Jahrhunderte
alten, nicht mehr benutzten Trave-Speichern am hellen Mittag sichtbarlich
umgeht.
Aber ein sonderlich Ding gehört in die Mauern dieses norddeutschen Nürnbergs
wie kaum ein anderes - es fügt sich hinein in das Urüberkommene mit all dem
verwitterten und sich neigenden Leben der alten Männlein und Weiblein, das es
betreut – gleich einem Endvers aus Walter von der Vogelweides letztem Lied:
„Ade Frau Welt“ – es ist das „Hospital zum heiligen Geist“, unweit des alten
Burgtors gelegen. Ebenso merkwürdig wie die eigenartige Einrichtung dieses
sogenannten „Spitals“ ist auch die Tatsache, dass seine Existenz und
sehenswerte Beschaffenheit nur einem Bruchteil aller Lübeckfahrer bekannt wird.
Der Sage nach ward die Heilig Geistkirche, ein gotischer
Backsteinbau, 1286 von dem Lübecker Bürger Mornewech, der es durch selbsteigene
Kraft zum reichen, angesehenen
Handelsherrn gebracht hatte, gegründet.
Gekappte Lindenbäume umdrängen den Eingang zur Kirche, in die man
durch eine frühgotische Kapelle gelangt, in der vier Altarschreine aus dem 15.
Jahrhundert hängen, aus starkem Eichenholz in realistischer Schönheit
geschnitzt, wo uralte Al Fresco Gemälde beim Abwaschen der gekalkten Wände
wieder in stillem Triumph zum Vorschein kamen – hinein in den langgestreckten
Bau des inneren Kirchenraumes, den jenes gewisse Licht durchgleitet, das einen
der Hauptreize altüberkommener Kirchen bildet.
Im Schiff der Kirche reihen sich aus weißgestrichenem Holz
aufgeführte kojenartige Zimmer Wand an Wand eng aneinander, deren schmale Türen
auf einen freigelassenen Gang münden. In diesen schmalen Kojen hausen gegen 158
alte Männer und Frauen, und wo man auch hinsieht – und die verwitterten Leutchen
zeigen mit Stolz ihre Behausung – herrscht schiffsmäßige Sauberkeit und
stillgewordene Zufriedenheit. Über jeder Koje steht auf dunkelschwarzem Grund
der Name des Bewohners nebst dem Datum seines Eintritts in das Schiff; eigen
mutet es an – fast kirchhofsmäßig, jene Inschrift da oberhalb der dämmerigen
Altenstube. Die verhutzelten Leutchen aber sind noch voll des interessierten
Lebens. Mit 60 Jahren dürfen sie in das Stift aufgenommen werden, sie zahlen
dafür 60 Mark ein. In der Woche werden ihnen zu reichlicher Atzung 3 Pfund
Fleisch, 2 Brote, ein drittel Pfund Butter und Milchsuppen zugeführt, außerdem
ein Wochengeld von 1,80 Mark, wofür sie sich ihr Abendbrot besorgen. Die
Einrichtung ihrer Kojen bringen sich die Alten selbst mit – dies im Alter so
schwierige Verpflanzen geht durch die Umgebung altgewohnter Gegenstände besser
vonstatten – und urgemütlich zusammengedrängt in einem Raum von nur 2 Meter im
Quadrat stehen Bett, Kommode, Speiseschrank, Stühle und Tisch – die
Warmwasserheizung geht unter den Bettpfosten hindurch, - „eine ganz
wunderschöne Einrichtung“, meint voll Anerkennung unser alter Führer, „immer
ein bisschen warm um die Nase und die Füße.“ Die Luftverhältnisse werden
geregelt durch ein vergittertes Klappfenster, das in die zwei Meter hohe
Zimmerdecke eingelassen ist und natürlich in den Innenraum der hohen Kirche
führt. Die Stiftsordnung beschränkt die alten Leutchen keineswegs in ihrer
Freiheit; sie dürfen, ohne Urlaub anzugehen, verreisen und erhalten dann ihr
Wochengeld ruhig weiter gezahlt. Auf Schritt und Tritt begegnet man geschäftig
umherwackelnden Alten, die, wie jene Figuren der Altarschreine, von vergangenen
Jahrhunderten geformt und geschnitzt zu sein scheinen und nur für den Rest
einer kurzen Spanne Zeit zur Wandlungsfähigkeit berufen sind.
Den Männern steht ein großes Rauchzimmer zur Verfügung, in dem sie
Karten spielen und lesen dürfen. Schon allein durch den anheimelnden
Tabakgeruch ist dieser sonnendurchwärmte Männersaal viel behaglicher als das
nordwärts gelegene, etwas düstere Gemeinschaftszimmer der Frauen, dessen
ureigentliche Gemütlichkeit einigermaßen durch ein gewichtiges Betpult gestört
wird, das durch seine feierlich aufdringliche Anwesenheit dem Ganzen einen mehr
kirchlichen Anstrich gibt.
Im abgeschlossenen Klostergärtlein dieses sonderbarsten aller
Spitäler sitzen die Stillen unter den nicht immer stillgewordenen Alten,
während die Andern mit hellen Äugelein auf den Bänken vor den Kirchentüren
hocken und eifrig das junge Leben draußen auf der „Weltstraße“ besehen und
bereden. Vier Krankensäle befinden sich in einem Anbau, wo auch die große Küche
liegt, deren Fleischkessel 250 Pfund auf einmal schlucken kann. Um 6 Uhr, zur
Abendbrotzeit, füllt sich die Küche mit trippelnden Leutchen – ein langer
Gasherd von 80 Flammen wird mit geschäftigem Eifer von den Männern ebenso
geschickt benutzt wie von den des Kochens sonst kundigeren Frauen. Sie wärmen
sich die Reste ihres Mittagessens oder braten sich die so beliebten
Pfannkuchen, - die Frauen rasch oder mehr mit dem Gleichmut alter Gewohnheit,
die Männer aber mit tiefgründigem Ernst, wie er zu einer so lebenserhaltenden
Staatsaktion dringend vonnöten erscheint. Gewichtig wird alles bemessen und
abgezirkelt, - und stolz zeigt ein Alter sein Werk: sechs hoch übereinander gestapelte
Pfannenkuchen, so gleichmäßig in der Farbe und Stärke wie die runden Knöpfe
eines königlich preußischen Soldatenwaffenrocks.
Langsam erhob sich aus der entferntesten Kirchenecke die Dämmerung
und glitt behutsam von einer stillen Koje in die andere. Auf den harten
Steinfliesen hallten kurze Trappelschritte, und die älteste Frau des Stiftes
kam mit neugierigen Äuglein auf uns zu. Mit jener Redseligkeit, die Alter und
Kindheit gemeinsam besitzen, erzählte sie noch rasch, dass sie 90 Jahre
geworden, da sei es nichts mehr mit der Tanzerei. Aber ihre Kojennachbarin, die
tanze noch allemal wie toll zur „Domzeit“ um Weihnachten, wenn eine Drehorgel
ins Spital käme. Aber das sei auch was anderes, denn die wäre noch soo jung –
erst 81.... Und mit klarem, vom verzehrenden Alter völlig ungetrübtem Blick sah
sie prüfend hin über die „Fremden“.
Versonnen und zögernd fast traten wir hinaus aus dem Gewirr der
eigenartigen Kojenstadt im steinernen Leib der uralten Kirche, hinein in das
Leben der Gegenwart, die in Lübeck noch immer so aussieht, als sei sie die
längst vergangene, alte Zeit.
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12917)