Samstag, 2. Januar 2016

Sylvester Punschgeister


01. Januar 1910, Hamburgischer Correspondent
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12913)

Wir saßen beim schweren Sylvesterpunsch, den ich mit jener tiefen Liebe, zartem Verständnis und rascher Entschlußfähigkeit zubereitet hatte, die man im Umgang mit Bowlen, Pferden oder – Damen so dringend notwendig hat. Sonst werden sie unbekömmlich – ein jedes auf seine Art.
Fern von der Zylinder mordenden Friedrichsstadt (Berlin) freuten wir uns – fünf Mann hoch – des bekannt „angenehm duftenden“ Trankes. Das „Mann“ natürlich etwas illusorisch gedacht, - denn die edle Weiblichkeit überwog auch wieder einmal hier, - natürlich nur der Quantität nach. Die Geister platzten aufeinander, es gab lebhafte Debatten, doch stets mit unparlamentarischer Mäßigung, aber an mir, oder vielmehr meinem Punsch, lag es wirklich nicht, da auch im Normalzustand dieser Familie stets genügend geistiger Zündstoff angehäuft ist, um ständige, für den nicht beteiligten Beobachter oft beängstigend wirkende Detonationen in Form heftiger, aber gutartiger Redeschlachten hervorzurufen. 


Das vergehende Jahr wurde mit all seinen Freuden und Leiden durchgehechelt, und da es manchen Leuten mit dem alten Jahr ebenso geht wie mit einem aufgedrungenen Logierbesuch, der nur zwei große Freuden mit sich bringt – die eine, wenn er kommt, die stärkere, wenn er geht , fanden auch wir es sehr nett, dass das alte Jahr notgedrungen seine Fahrkarte, Endstation Zeitmeer, bis Mitternacht benutzen musste, und endlich ein Ziel und Ende für diesen etwas zu lang ausgedehnten Aufenthalt abzusehen war.
Und da man bekanntlich bei allen geistigen Getränken recht wenig geistreich wird, tauchte alsbald die furchtbarste aller Zeitfragen, die durch ihr Sein oder Nichtsein berufen ist, eine größere Umwälzung hervorzurufen, als jemals die Revolution in Russland vermochte, - die Dienstmädchenfrage aus den Abgründen der Punschbowle hervor.
Frau von Wildbach (Anna von Monsterberg) war die Anstifterin, indem sie mit fast beängstigend wirkendem Tiefsinn auf das wilde Chaos der Gläser und Teller sah, und, entgegen ihrer sonstigen Energie, ganz ängstlich mahnte:
„Kinder macht bloß nicht noch mehr Unordnung, sonst kündigt uns unsere Donna womöglich noch als Neujahrsüberraschung.“
Die älteste Tochter, die sich nie gern aus ihrer angeborenen Ruhe bringen lässt, stimmte der warnenden Mutter zu, während die beiden anderen Töchter des Hauses im bösesten jugendlichen Leichtsinn diese Möglichkeit einfach als willkommenen Anstoß zur Rettung aus schlimmsten Sklavenketten erklärten. Und sie begeisterten sich für die absurde Idee, selig zu sein ohne „Minna“. Minna, dies einzigartige Mädchen mit der 14tägigen Kündigung, die es in ihrer zweijährigen Dienstzeit schon so weit gebracht hatte, dass ihre Bücher 35 Stellen aufwiesen, worunter 27 Zeugnisse derart „Glänzend“ waren, dass keine anschwärzende Tinte sich darin aufzudrängen wagte.
Das hochinteressante Thema war noch nicht erschöpft, als vor Ablauf des alten Jahres die Punschgeister die drei Mädels eifrigen Traumgöttern zur Weiterbeförderung in ein besseres Land übergaben.
Die Jüngste (Sybilla von Monsterberg) der Familie, die, seit sie erinnerungsfähig geworden, stets unter dem Zeichen der „Versetzungen“ ihres Offizierstochterdaseins stand, und infolge dessen etwas zigeunermäßige Wanderunruhe in sich hatte, murmelte aus ihren Kissen:
„Minna fort! Fein wäre das! Dann könnte man denken, es gebe mal wieder Umzugstrubel!“
Und die Älteste, die das Soldatenblut noch am unverdünntesten abbekommen, meinte dementsprechend:
„Dann würde die Sache eben so geregelt werden müssen, dass immer eine von uns „Ordensdienst“ hat. Die Jüngsten fangen an! Merk Dir das Benjamina. Aber jetzt endlich, Schluss der Debatte!“
Brrrrr – die elektrische Klingel! Herr Gott, was man leichtsinnig heraufbeschwor, ist Wahrheit, peinvolle und reichlich abkühlende Wahrheit geworden!
Völlig ohne Mädchen!!
Und es läutet, noch einmal, jetzt schon mit einem gewissen Vorwurf im Ton, und dabei ist es erst halb acht!
Drei weiße Gestalten sind wie auf Kommando zu gleicher Zeit aus den Betten. Doch opfermutig stößt die Älteste, im Gefühl ihrer verpflichtenden Erstgeburtswürde, die beiden traumbenommenen Schwestern zurück, schleicht sichernd, wie ein waschechter Indianer auf dem Kriegspfad über die im fahlen Morgendämmer liegende Diele und öffnet die Entreetür, sie gleichzeitig als höchst notwendige Deckung für ihren übrigen Menschen benutzend.
Ein etwas eigentümlich toilettierter Arm reckte sich dem sonst so willkommenen Briefträger entgegen, der mit ahnungsloser Freundlichkeit als Briefzugabe einen höchst reizvollen Händedruck und einen:
„Guten Morgen auch, schöne Minna“, abgibt.
Mit einem wütenden:
„Ja, guten Morgen“ schleuderte der verpfuschte Stammhalter der Familie die Briefe auf den nächsten Stuhl und sich noch einmal ins lockende Bett.
Brrrrr – es läutet schon wieder!
„Bolle! Die Milch“, stöhnt die Mittelste (Karoline von Monsterberg), die sich nun ihrerseits bei dem zweiten Scheller endgültig erhebt und sich förmlich schuldbeladen fühlt, da sie die einzige Persönlichkeit der Familie ist, die diese milchkonsumierende Säuglingsgewohnheit beibehalten hat.
„Na, denn also, an die Pferde“, knurrt Erna (Elinor von Monsterberg), die Älteste, und nach kurzer Morgentoilette, die so flüchtig wie noch nie ausfällt, verteilen sich die drei wie selbständige Schützenzüge in die tiefen der Wohnung (Kaiserallee 159, Wilmersdorf).
„Nun seht mal bloß – diese empörende Unordnung im Esszimmer!“, maulte die Jüngste, das sogenannte „Luxusmädel“, wie Frau von Wildbach ihre dritte Tochter in weiser Erkenntnis der Dinge einst getauft, als diese mit verblüffender Unverfrorenheit anstatt des „bestimmt“ erwarteten Sohnes, in der rittmeisterlichen Familie sich ihren Platz erst erzwang, bald eroberte.
„Als ob eine Schwadron Husaren hier gekneipt hätte!“, attestierte der Chor.
„Und das sollen wir in Ordnung bringen!“
„Es ist nur gut,“ reflektierte Benjamina, „das gestern kein Panschwetter war. Aber heute! Kein Schnee, dafür regnet´s Schusterjungen, da können wir uns ja morgen auf die Stiefel freuen!“
Dabei bearbeitete sie mit ererbter Energie und schwungvollen Armbewegungen die Stiefel ihres Vaters, wobei sie, wie sie es als Kind so oft in heißer Bewunderung beim Burschen angestaunt, zur Erhöhung des Glanzes auf die Schuhcreme spuckte, bis ihr vom Zentrum und der Fraktion der Rechten heftig klar gemacht wurde, dass man solcher Naturkräfte nur für die altmodische Wische benötigt hatte.
„Kinder, stellt Teewasser auf, ich gehe Gemüse besorgen“, erklärt mit wahrer Grabesstimme und der Miene einer entthronten Königin die aus all ihren geliebten Gewohnheitsgleisen herausgeschleuderte Erna. Aber lachend erscheint sie nach kurzer Zeit wieder auf dem Kriegsschauplatz, eine Tüte Äpfel, „geschenkter“ Äpfel im Arm, den Jägerhut verwegen auf einem Ohr, und erklärt:
„Was ich auch einkaufte, alles ist billiger, wie Minna es ankreidet, und außerdem bekam ich um meiner schönen Augen willen noch Äpfel dezidiert. Ich schlage aber vor, wir schreiben unserer „Herrschaft“ alles genau so hoch an, wie sie das gewöhnt ist. Es tut nicht gut, wenn man Menschen aus dem seelischen Gleichgewicht bringt. Und außerdem, ein Äquivalent muss man doch schließlich für die ungewohnte Arbeitsleistung haben!“
„Jawohl, fühlen wir uns jetzt als zum dritten Stand gehörig!“, hetzte das revolutionäre Luxusmädel.
„Fühl ich mich schon“, meinte das mittelste Erzeugnis, „da liegen nun die „Herrschaften“ im warmen Bett, und von uns wird kaltlächelnd verlangt, dass wir zeitig aufstehen und arbeiten. Und dann macht man am Ende doch nichts recht! Ja, wenn man noch anständigen Lohn bekäme, aber so, bloß travailler pour le roi de Prusse (arbeiten für den Preußenkönig) – nee, danke für Obst!“
„Kinder – Telephon!“, verkündet Erna mit nur mangelhaft gedämpfter Kommandostimme. Alle drei stürzen nach dem Apparat. Erna lässt sich den Hörer nicht nehmen und reißt ihn im wahrsten Sinne des Wortes an sich, dabei ihr Erstgeburtsrecht vorschiebend, auf das sie pocht, wo es ihr passt, und das ihr selbst um eine Schüssel Austern nicht feil wäre.
„Hier Mädchen von Frau von Wildbach!“, schmetterte sie in den Apparat.
Heulendes, schwesterliches Gelächter begleitet diese neue Behauptung. Wütend dreht sich Erna um:
„Na, wollt Ihr mir etwa abstreiten, dass ich das bin?“, haucht sie ihre unbotmäßigen Schwestern an.
„Nimm Dich in acht, Du tutest ja Deine Wut in alle Welt hinaus!“, preschten die beiden anderen los.
„Schließt mal einen kleinen Augenblick Eure Futterluken, wenn Ihr das könnt.“ brummt Erna, um bald mit hellem Lachen den Hörer anzuhängen.
„Mädels, es ist angenehmer, sich als „Mädchen von Frau Wildbach“ zu melden, was sind da die Leute gleich nett. Unser brummiger Fleischer nannte mich „schönes Fräuleinchen“! Dafür habe ich auch gleich zugestimmt, als er frug, ob er die Keule eines prachtvollen Familienkalbes schicken kann. Heute kommt ja doch Konstantin zu Tisch, und der ist einfach gebrochen, wenn er nicht was Gutes „flapsen“ kann.“
Nach dieser Erholungspause stürzen die drei weiter an die Arbeit. Das beim Lampenputzen die ganze Küche durchdringend nach Petroleum riecht, erhöht nur den Reiz der eigenartigen Situation. Als die große Vordiele von Benjamina gefegt wird, erscheinen eiligst die beiden andern, und nun ward sich dieser unzerstörbare Dreibund lachend klar, dass eine jede schon einmal ahnungslos den geduldigen Vorraum gesäubert hatte. Das Bewusstsein aber stärkte und tröstete sie, dass beim Herrichten der Betten wenigstens ein dreimaliges Bearbeiten weniger Spurlos vorüber gehen würde wie auf der Diele, die etwas ausgiebige Verkehrstunde.
Da plötzlich donnern unzählige Schläge, als sei wieder einmal ganz ausnahmsweise ein Prinz geboren. Doch nein, der Rittmeister (Hermann von Monsterberg) klopft nur an die Tür zum Allerheiligsten seiner Mädels, und die väterliche Stentorstimme erweckt endgültig die vom Sylvesteralp schwer bedrückten Töchter aus harten Träumen.
„Mädels, steht doch endlich auf. Es ist schon lange Neujahr. Minna will aufräumen!“
Mit einem geradezu beseligten Aufatmen rief Erna:
„Minna will aufräumen? Nein, wie lieb von ihr!“
Und mit Tränen der Rührung in den Augen sang sie leise und voll Andacht die österreichische Hymne mit kühner Variation:
„Gott erhalte unsre Minna – Minna unser Hab und Gut.“