Sonntag, 15. Mai 2016

Pfingst-Gedanken


Die heilige Stunde, Ludwig Fahrenkrog, 1918

Pfingstodem über den Welten.

Und Frühling auf Erden!
Ohne Unterlass erneuern sich ihre Kräfte und jeden Augenblick schöpfen sie aus.
Allüberall ein seliges Sichverschwenden — Frühling auf Erden und Pfingsten ist nahe! Das Fest jenes Geistes, der Sphären und Welten durchflutet in uraltem Erneuern, den keine Vorstellung erfassen kann, und dem unser Erdgedanke keine Formen zu geben vermag. Der Allgeist, vor dem die menschliche Erkenntnis allzu oft versagt, zerflattert — denn Erdenschwere hemmt — und der Staubgeborene vermag den Geist nicht zu begreifen, der ihn allein in abstraktem Wesen umfängt.

„Nur in Gedanken vorhanden“ — also nicht fassbar, sichtlich, und doch nimmt dieses Lebensgeistes Weben in jedem Atemzuge irdisch verständliche, greifbare fassliche Formen an. Das Walten und Werden der alten Erde, der Meere und Sterne ewiges Wallen, das lebendig bewusste Ineinandergreifen der Kräfte des Weltalls, — der sterblichen Menschheit unsterbliche, stärkste Schöpfungen, das leidvolle Hohelied der Elternliebe und all der reinen Dichtkunst immer neues Tönen — des „Heiligen Geistes“ Formen sind sie alle, sein Odem wallt und webt und schafft aus ihnen, — wie an des Weltalls erstem Werdetage auch.

Und wen der Geist der Pfingsten ganz durchflammt — bezwingt zwei dunkle Mächte in sich, über sich: dumpfer, lähmender Trägheit erdrückende — und schweren Todes fahle Dämmerungen.
Unermessliches — der Geist allen Erkennens lehrt es überwinden, was unerforschbar scheint, in ihm wird es durchgründet. Und der urewige Lebensodem, der in unerfasster Müdelosigkeit schaffend durch Äonen wallt, — lehrt auch das in uns, was wir „Seele“ nennen müssen, — frei von Raum und Zeit, — eine unzerstörbare Brücke in Ewigkeiten hinein errichten, — in Ewigkeiten, die er durchflutet, und in deren zeitenlosem „Immer“ uns das reifen muss, was uns keine irdischen Geisteskräfte begreifen lassen: die Erfüllung allen Seins und  — die Erkenntnis.


15. Mai 1910, Hamburgischer Correspondent
(Hamburger Staatsarchiv / 741-4_S 12917)